Einer von vielen by Zähringer Norbert

Einer von vielen by Zähringer Norbert

Autor:Zähringer, Norbert
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Belletristik/Gegenwartsliteratur (ab 1945)
Herausgeber: rowohlt


Da stand er nun also vor ihr. Der reichste Mann Amerikas. Und wie weiter? Vor ihm auf die Knie fallen? Sich an seinem Hosenbein festkrallen und nicht eher gehen, bevor sie nicht die Gewissheit hatte, dass ihr Sohn in Sicherheit sein würde? Sie brachte kein Wort heraus. Hielt krampfhaft den Umschlag fest. Hodges griff danach, aber sie ließ nicht los.

«J. D.», begann er, und sie dachte: Jetzt ist es aus. Der Moment verstrichen, die Chance vertan, Eddies Tod besiegelt. Gleich wird er seine Operettensoldaten rufen und mich aus seinem Märchenschloss werfen, «lassen Sie uns allein.»

Fassbender verließ zögernd den Raum. Leise schloss er die Tür.

Mary ließ den Umschlag los. Hodges nahm ihn, setzte sich an seinen Schreibtisch und deutete auf einen Stuhl gegenüber. «Setzen Sie sich doch.»

Er zog den Brief aus dem Umschlag: ein leeres Blatt. Er besah sich noch einmal den Umschlag, dann legte er beides auf den Tisch.

«Ich nehme an», begann er, «Absender und Zustellerin sind dieselbe Person, Mrs. Frimm?»

«Ja.»

«Sie haben sich viel Mühe gemacht, mir ein leeres Blatt Papier zu schicken. Ich hoffe, Sie wollen keine Filmrolle, dafür sind Sie nämlich, bitte nehmen Sie mir das nicht übel, zu alt. Sie könnten meine Mutter sein.»

Mary und Hodges waren im gleichen Alter. Aber das nahm Hodges nicht wahr. Er meinte, dass Mary im gleichen Alter wie seine Mutter war, als diese starb und er an ihrem Bett stand.

«Es geht um meinen Sohn.»

«Ja und?»

«Ich will ihn beschützen.»

«Wovor?»

«Vor dem Krieg. Vor dem Tod.»

«Und warum kommen Sie damit zu mir?»

«Weil Sie ihn schützen können.»

Hodges runzelte die Stirn.

«Ich bitte Sie», fuhr sie fort, «beschäftigen Sie ihn in einer Ihrer Fabriken oder einem Ihrer Studios; tun Sie irgendetwas, egal was, damit er unabkömmlich ist, ein für alle Mal, bis der Krieg vorüber ist.»

«Warum sollte ich das tun?»

«Warum sollten Sie es nicht tun?»

Einen Moment lang wirkte Hodges matt und ratlos, als habe ihn die Wirklichkeit in ihrer ganzen Trostlosigkeit, die Wirklichkeit, in der Menschen verkrüppelt, zerfetzt, ausgelöscht werden, die Wirklichkeit ohne letzte Worte, sondern nur mit einem weggeschossenen Kiefer, der keine letzten Worte mehr hervorbringt, die Wirklichkeit mit brennenden Flugzeugen und brennenden Städten, mit Leibern, die von Panzern überrollt werden, mit Mördern, die ihre Opfer vor selbstgeschaufelten Gräbern antreten lassen, mit Maschinengewehr und Handgranate und Bajonett und Spaten und Geschrei nach der Mutter, als habe ihn all das, was in diesem Augenblick tatsächlich geschah, wie eine Vision gestreift.

«Als ich ein Junge war», sagte er leise, «ging ich in ein Internat, das mitten in der Wildnis New Mexicos gelegen war, eine Mischung aus Schule und Pfadfinderlager. Wir sollten nicht nur Algebra und Grammatik lernen, sondern auch reiten, einen Unterstand bauen, Feuer machen können. Es war eine glückliche Zeit. Doch eines Tages hörte meine Mutter, dass an einer anderen Schule die Pocken aufgetreten waren. Ich weiß bis heute nicht, woher sie das hatte und ob überhaupt irgendjemand krank geworden war. Auf jeden Fall meldete sie mich sofort ab und brachte mich nach Hause, wo ich die nächsten Jahre mit einem Privatlehrer zubrachte.»

«Falls Sie damit sagen wollen, dass mein Sohn es mir nicht danken wird? Da pfeif ich drauf.



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